Was bedeutet ADS in Wirklichkeit? (2. Teil) weiter

Neurobiologische Grundlagen und Vererbung des ADS/ADHS

A. Was man vom Aufbau des Nervensystems wissen sollte:

Eine wichtige Voraussetzung für die Funktion des Gehirns besteht darin, dass die peripheren Nervenzellen (Neuronen) die verschiedensten Wahrnehmungsreize in bioelektrische Impulse transformieren. Diese werden dann weitergeleitet zu den entsprechenden Zentren im Zentralnervensystem und dort „verarbeitet“. Werden zwei Neurone wiederholt und gleichzeitig bioelelektrisch erregt, verbinden sie sich an den Schaltstellen (Synapsen) miteinander. Aus der Summe der vielen Verbindungen entsteht dann ein neuronales Netzwerk (ein Nervengeflecht).

Je mehr Wahrnehmungen in bioelektrische Impulse verwandelt und von den Nervenzellen weitergeleitet werden, desto umfangreicher entwickelt sich das neuronale Netzwerk. Je weniger Wahrnehmungsreize weitergeleitet werden, umso weniger Nervenzellen (Neuronen) verbinden sich miteinander. Nervenzellen, die keine bioelektrischen Impulse bekommen, lösen sich nach einer gewissen Zeit auf.

Durch die Vernetzung von Milliarden von Nervenzellen und deren genetisch vorgegebene „Spezialisierung“ können wir Fähigkeiten erwerben, Informationen und Erfahrungen abspeichern und diese auch bei Bedarf wieder sofort abrufen. Dabei werden alle neu eintreffenden Wahrnehmungen mit den schon gespeicherten Mustern verglichen, was uns dann als Erfahrung oder als Erinnerung zur Verfügung steht und zur Grundlage unseres Wissens wird.

 

B. Die Funktion des Nervensystems:

Damit wir nur für uns Wichtiges aufnehmen und abspeichern, ist ein Filtersystem erforderlich, das unwichtige Reize ausblendet. Funktioniert dieser Filter nicht oder nur unzureichend, wird unser Gehirn mit Reizen überlastet. Auf die Dauer überfordert das unser Arbeitsgedächtnis, wichtige Informationen gehen uns verloren, unsere Merkfähigkeit leidet.

Gelingt in den Zentren der Wahrnehmungs(Reiz)verarbeitung die Spezialisierung auf Grund einer vererbten oder anlagebedingten Störung nicht, so sind Wahrnehmungsstörungen die Folge. In der Praxis lässt sich eine familiäre Häufung von Wahrnehmungs(verarbeitungs)störungen nachweisen, vorausgesetzt man sucht danach. Ein Beispiel dafür ist das familiär gehäufte Auftreten von Rechtschreib- oder Rechenschwäche, als eine Folge multipler Wahrnehmungsstörungen und einer beeinträchtigten Konzentration.

Damit das abgespeicherte Wissen schnell, gezielt und sicher wieder abrufbar und somit verfügbar ist, muss unser Gehirn zu den betreffenden Zentren Bahnen ausbilden. Ähnlich den Autobahnen, die möglichst ohne Umwege und Staus zu den gewünschten Zielen führen. Das erfordert ein regelmäßiges Training der Wahrnehmungsverarbeitung in bestimmten Prägungsphasen der Entwicklung und die ist in den ersten 6-8 Lebensjahren angesiedelt. Da nur bei ständiger Wiederholung gleicher Wahrnehmungsreize sich ganz bestimmte Bahnen zu ihren Zentren im Gehirn bilden, ist häufiges Training erforderlich. Über diese Bahnen kann später die Automatisierung von kognitiven Leistungen und Verhaltensweisen erfolgen.

Das unterstreicht die Notwendigkeit einer frühen und regelmäßigen gezielten Förderung, die wichtig ist, zur Verhinderung von Wahrnehmungsverarbeitungs-störungen. Denn bis zum Erreichen des Schulalters sollten die wesentlichsten Bahnen, die das Kind zum Lernen benötigt, ausgebildet sein.

Die Vernetzung der Nervenzellen beginnt nach der Geburt. Für die dann folgende Ausbildung der Bahnen für eine schnelle und effektive Weiterleitung der bioelektrischen Impulse sind nicht nur kognitive Reize wichtig, sondern auch regelmäßige körperliche Tätigkeiten.

 

C. Die Rolle der Botenstoffe:

Damit Reize über Milliarden von Nervenzellen weitergeleitet werden können, sind Transportstoffe erforderlich, die so genannten Botenstoffe. Es gibt davon eine Vielzahl, aber die wichtigsten sind Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin. Sie leiten die Reize der verschiedensten Wahrnehmungen in ganz unterschiedliche, aber vorbestimmte Bereiche des Zentralnervensystems weiter.

Um eine Überlastung der Nervenleitungen zu verhindern, sind zwischen den einzelnen Nervenzellen Schaltstellen eingebaut, ähnlich den Sicherungen unseres elektrischen Stromnetzes. In diesen Schaltstellen (Synapsen) müssen immer die entsprechenden und gerade benötigten Botenstoffe in ausreichender Menge vorhanden sein. Ihr Mangel hat sonst eine Funktionsstörung zur Folge, die der Körper auszugleichen versucht, was ihm nur bei geringem Mangel und zeitlich begrenzt gelingt.

 

D. Was ist bei ADS/ADHS in unserem Gehirn anders?

Beim ADS/ADHS haben wir:

Eine Reizfilterschwäche, d.h. das Gehirn wird von Geburt an mit viel zu viel Reizen überlastet. Sehr viele Nervenzellen bleiben zwar dadurch erhalten, aber es leidet die Ausbildung der für ein angepasstes und schnelles Denken und Handeln so wichtigen Nervenbahnen. Im Kopf herrscht Chaos und viel zu viele Gedanken blockieren gezieltes und überlegtes Denken und Handeln. „Ich habe ständig Kino im Kopf“ oder“ abends komme ich vor lauter Grübeln nicht in den Schlaf“, so einige Aussagen von Betroffenen.

Einen Mangel an einzelnen Botenstoffen, der genetisch bedingt ist, also vererbt wird. Was bedeutet das für die Betroffenen und welche Folgen hat das? Beim ADS/ADHS spielt der Mangel an Botenstoffen eine wesentliche Rolle. Er bestimmt das Erscheinungsbild, je nachdem, welcher Botenstoff an welchem Ort zu wenig vorhanden ist. Im vorderen und hinteren Bereich des Gehirns gibt es je ein Zentrum für Daueraufmerksamkeit. Das vordere Zentrum wird von Nerven versorgt, deren Reize mittels Dopamin weitergeleitet werde, da hintere benötigt ausreichend Noradrenalin als Botenstoff. Besteht z. B. ein Mangel von beiden Botenstoffen, so reagiert der Betroffene mit Unaufmerksamkeit, er kann nicht bei der Sache bleiben, nicht anfangen und Begonnenes nicht beenden. Es sei denn, es ist für ihn sehr interessant.

Die wichtigsten Botenstoffe und ihre Funktionen:
Dopamin ist für die Regulation des Verhaltens und der Feinmotorik verantwortlich. Bei Dopaminmangel kann das Verhalten nicht ausreichend gesteuert werden. Der Betroffene regt sich schnell und übermäßig stark auf, er reagiert impulsiv. Seine Motorik ist überschießend und ungebremst. Er motiviert sich durch Hyperaktivität um den Mangel an Dopamin auszugleichen, dabei ist sein Tun und Handeln oft wenig zielgerichtet. Die Feinabstimmung der Motorik ist beeinträchtigt. Dopamin setzt das körpereigene Belohnungssystem in Gang, was ein Gefühl des Erfolges, der Zufriedenheit mit sich und seiner Leistung bewirkt und einen Motivationsschub auslöst.
Noradrenalin versorgt ein im hinteren Bereich des Gehirns liegendes Aufmerksamkeitszentrum. Dieses Zentrum ist auch für die Regulation der Motivation, der Stimmung und des Gedächtnisses für Gefühle verantwortlich. Noradrenalin reguliert unser Verhalten, verhindert zu starke Schwankungen unserer Gefühle.
Serotonin ist der Botenstoff, der das Gefühlszentrum versorgt, Stimmung, Antrieb und seelisches Wohlbefinden reguliert. Es beeinflusst auch die Ausschüttung von Stresshormonen und es ist auch der Botenstoff für das Nervensystem unseres Darmtraktes. Auf Serotoninmangel reagiert der Körper mit Ängsten, Zwängen und depressiven Verstimmungen.
Acetylcholin ist wichtig für die Gedächtnisbildung, seine Rolle beim ADS/ADHS ist noch wenig erforscht.
Bewegung und regelmäßiges sportliches Training gleichen die Defizite der einzelnen Botenstoffe in gewissem Grade untereinander aus und fördern somit die Konzentration und Daueraufmerksamkeit für einen begrenzten Zeitraum. Auch Aggressionen werden abgebaut, so genannte “Glückshormone“ werden gebildet und lösen ein Gefühl des Wohlbefindens aus. Leider ist diese Wirkung nicht von Dauer.
ADHS/ADS und Vererbung.
Für die wichtigsten drei Botenstoffe des ADS/ADHS konnte bisher eine genetisch bedingte Transporterstörung wissenschaftlich nachgewiesen werden. Sie ist auf mehrere Gene verteilt. Die Summe der betroffenen Gene entscheidet über die ganz spezielle und sehr unterschiedliche Symptomatik des ADS/ADHS. Die Gene haben einen additiven Effekt, d.h. je mehr Gene betroffen sind, umso ausgeprägter ist die Symptomatik des ADS/ADHS.

Haben beide Elternteile nur wenig betroffene Gene, besteht eine ADS-Veranlagung, wobei deren Kinder eine ausgeprägte ADS-Symptomatik haben können, wenn sie von beiden Eltern gerade die betroffenen Gene geerbt haben.

Beim ADS/ADHS bestehen eine Reizfilterschwäche und ein Botenstoffmangel von Geburt an. Es handelt sich also um eine angeborene Regulationsstörung im Nervensystem, deren Ursache eine Unterfunktion im Stirnhirnbereich ist und je nach Schwere die Entwicklung des Betroffenen mehr oder weniger beeinflussen kann. Wie stark die Beeinträchtigung ist, hängt von den vorhandenen Ressourcen des Betroffenen und vom Verhalten des sozialen Umfeldes ab.

Dr. Helga Simchen

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