Was bedeutet ADS in Wirklichkeit?
Viele sprechen von ADS, aber die wenigsten wissen, wovon sie reden.
A. Warum gibt es über das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität (ADHS) und ohne Hyperaktivität (ADS) so viele Unklarheiten, die zu den widersprüchlichsten Meinungen führen?
Diese verschiedenen Meinungen verunsichern und schaden vor allem den Betroffenen, die sich aus Unkenntnis beeinflussen lassen und dem glauben, der es eigentlich wissen müsste auf Grund seiner Stellung oder Ausbildung. Die Folge ist dann, dass eine unbedingt notwendige Diagnostik und Behandlung unterlassen wird oder erst Jahre später erfolgt. Dadurch geht wichtige Zeit verloren, in der Betroffene immer mehr leidet. Durch die massenhaft angebotenen alternativen Therapien werden einzelne Symptome mehr oder weniger erfolgreich behandelt. Aber bei ausgeprägter Symptomatik reicht das nicht. Wird die Ursache nicht behandelt, kann es noch nach Jahren zu psychischen Erkrankungen kommen. Diesen Zusammenhang zu erkennen und zu akzeptieren, erfordert einen Perspektivwandel in der Psychiatrie.
Angehörige beider Berufsgruppen kommen heute in ihrer therapeutischen Tätigkeit nicht mehr ohne wissenschaftlich fundierte Kenntnisse über das ADS mit und ohne Hyperaktivität aus. Das zeigt die Praxis.
Unbehandelt ist die Lebensqualität der Betroffenen stark einschränkt, ihre Familien leiden mit und jede spätere Behandlung wird für alle schwieriger.
An einem Zusammenhang von ADS und einer Vielzahl psychischer Störungen und Erkrankungen als Begleit- oder Folgeerscheinung besteht heute kein Zweifel mehr. Deshalb ist ein Perspektivwechsel in der Psychiatrie und Psychotherapie erforderlich. Die Ergebnisse der neurobiologischen Forschung dienen als Grundlage und müssen berücksichtigt werden.
Außerdem ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen in seiner individuellen Entwicklung unter Einbeziehung seines sozialen Umfeldes erforderlich. Denn ADS und ADHS sind bei ausgeprägter Symptomatik eine angeborene neuro-psycho-soziale Störung mit Auffälligkeiten auf der neuromotorischen, der emotionalen, der kognitiven und Verhaltensebene.
B. Zu den Ursachen des ADS/ADHS:
Ein Perspektivwechsel in der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie würde bedeuteten, nicht mehr die Symptome in den Mittelpunkt der Behandlung zu stellen, sondern deren neurobiologische Ursachen, entsprechend den Erkenntnissen der aktuellen Forschung.
Neurobiologische Forschung ist heute in der Lage, in wesentlichen Bereichen mittels hochtechnischer Bildgebungsverfahren Aussagen über den Zusammenhang von Störungen in einzelnen Bereichen des Gehirns und den Auffälligkeiten beim ADS/ADHS zu machen.
Auffälligkeiten der Motorik, des Verhaltens, der Konzentration, der Daueraufmerksamkeit, der Impulssteuerung und noch manches mehr können jetzt neurobiologisch erklärt werden.
Hyperaktivität, Verhaltensstörungen, Mangel an Konzentration und Daueraufmerksamkeit sind Symptome, die in dieser Kombination bei beiden ADS-Formen vorkommen, aber nicht für eine Diagnose ADS/ADHS ausreichen. Auch bei anderen Erkrankungen treten diese Symptome in dieser Kombination auf.
Hyperaktiv oder verhaltensgestört ist noch lange nicht gleich ADS/ADHS! Beim ADS ohne Hyperaktivität stehen Verhaltensstörungen zunächst weniger im Vordergrund. Hier haben wir vor allem eine beeinträchtigte Daueraufmerksamkeit mit Auffälligkeiten im Sozialverhalten und Lernstörungen infolge einer veränderten Wahrnehmungsverarbeitung.
Das ADS ohne Hyperaktivität wird deshalb bei oberflächlicher Betrachtungsweise nicht oder viel zu spät diagnostiziert und deshalb bis heute in der ADS-Forschung zu wenig berücksichtigt. Diagnostik und Therapie des ADS ohne Hyperaktivität ist wesentlich aufwändiger und schwieriger.
Neben diesen beiden Formen des ADS gibt es noch viele Zwischenstufen, die oft in der gleichen Familie nebeneinander oder in der nächsten Generation vorkommen. Dabei gleicht kein ADS/ADHS dem anderen, so vielfältig ist sein Erscheinungsbild.
Das ADS/ADHS in seiner Anlage wird immer vererbt. Die Gene dafür sind auf verschiedenen Kernschleifen (Chromosomen) lokalisiert, was in den letzten Jahren wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Genetisch handelt es sich dabei um eine Transporterstörung der Botenstoffe: Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Möglicherweise spielen noch weitere Botenstoffe eine Rolle.
Das ADS mit und ohne Hyperaktivität wird definiert als eine angeborene und neurobiologisch bedingte, spezifisch veränderte Steuerungsdynamik der kognitiven, emotionalen und motorischen Wahrnehmungs-Verarbeitung auf Botenstoffbasis mit einem daraus resultierenden und typisch verändertem Reaktions- und Verhaltensmuster.
C. Aus den Ursachen lassen sich folgende therapeutische Strategien ableiten:
Neurobiologisch handelt es sich dabei um eine Unterfunktion des Stirnhirns, die mittels spezieller Computerverfahren über den Glucoseverbrauch durch den Einsatz radioaktiv markierter Substanzen nachgewiesen werden kann.
Diese Unterfunktion des Stirnhirns und der Mangel an einzelnen Botenstoffen (infolge genetisch bedingter Transporterstörung) kann mit den Stimulanzien ausgeglichen werden, ein Nachweis für die Wirksamkeit und Richtigkeit dieser Therapie. Durch die genetisch bedingte Transporterstörung stehen in den Spalten zwischen den einzelnen Nerven (Synapsen) nicht ausreichend Botenstoffe zur Weiterleitung der verschiedenen Wahrnehmungsreize zur Verfügung. Hier setzt eine weitere Wirkung der Stimulanzien ein, denn sie beseitigen den Mangel und gleichen das Verhältnis der Botenstoffe in den synaptischen Spalten aus. Denn für eine optimale Funktion des Nervensystems muss das Verhältnis der einzelnen Botenstoffe zueinander stimmen, um unterschiedliche Wahrnehmungsreize mittels spezieller Botenstoffe zu deren entsprechenden Verarbeitungs-Zentren des Zentralnervensystems weiterleiten zu können.
Was bewirken die Botenstoffe?
Dopamin aktiviert das im Stirnhirn gelegene so genannte vordere Aufmerksamkeitszentrum, die feinmotorische Abstimmung und das körpereigenen Belohnungssystem.
Noradrenalin ist für Antrieb, Impulssteuerung verantwortlich und reguliert das hintere, im Scheitellappen gelegene Aufmerksamkeitszentrum.
Serotonin ist für die Gefühlssteuerung in Zusammenarbeit mit dem Gefühlsgedächtnis verantwortlich, Mandelkern und das Limbische System sind die Zentren dafür. Serotoninmangel führt zu Antriebsarmut, Traurigkeit, Ängsten, Zwängen und depressiven Verstimmungen.
Die Botenstoffe überlappen sich in ihrer Wirksamkeit nach dem Prinzip der doppelten Sicherung, was ihre Wichtigkeit unterstreicht. Ihre Verfügbarkeit kann auch medikamentös durch die Gabe von Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern verbessert werden. Beides sind Antidepressiva, die auch in der Therapie von Begleit- und Folgeerkrankungen des ADS/ADHS einen wichtigen Platz einnehmen.
Solch ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer ist das Atomoxetin, das als „Strattera“ seit März 2005 zur Behandlung des ADHS zur Verfügung steht.
Auch die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer haben sich in der Therapie des ADS und dessen Begleit- und Folgeerkrankungen (Komorbiditäten) bewährt, wenn sie auf Serotoninmangel beruhen, wie Ängste, Zwänge und depressive Verstimmungen. In der Kombination mit den Stimulanzien gelingt eine Optimierung der Therapie.
D. Was ist ADS/ADHS und was ist es nicht?
Das ADS mit und ohne Hyperaktivität ist also mehr als eine Störung der Konzentration und des Verhaltens. Seine Diagnose macht eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Beschwerden des Patienten in seiner Entwicklung, in seinem sozialen Umfeld, seinen individuellen Fähigkeiten und Defiziten erforderlich.
Das ADS ist eine hirnorganisch bedingte Störung, die immer Symptome, je nach Schweregrad, in den Bereichen: der Denk- und Merkfähigkeit, der Konzentration und Daueraufmerksamkeit, des Verhaltens und der Impulssteuerung sowie der motorischen Ebene aufweist.
Das ADS mit und ohne Hyperaktivität ist oft nur als Veranlagung vorhanden mit durchaus vielen positiven Eigenschaften für den Betroffenen. Es ist also von vornherein keine Krankheit, kann aber im ausgeprägten Fall und unter ungünstigen äußeren und inneren Bedingungen zu schweren psychischen und körperlichen Erkrankungen in Form psychosomatischer Beschwerden führen. Deshalb ist seine möglichst frühe Diagnostik und wenn nötig, auch eine Behandlung erforderlich, damit vor allem das Selbstwertgefühl der Betroffenen nicht leidet.
E. Eine Fortsetzung dieser Thesen ist vorgesehen
Das ADS mit und ohne Hyperaktivität wird in jedem Fall vererbt. Negative Einflüsse auf das sich entwickelnde Kind durch Rauchen, Alkoholgenuss oder großen Stress in der Schwangerschaft können die Symptomatik wesentlich verstärken und damit erst zum Ausdruck bringen. Sie sind aber nicht die Ursache des ADS. Alkoholembryopathie und „Raucherbabys“ gibt es unabhängig vom ADS. Auch eine frühkindliche Hirnschädigung z. B. durch Sauerstoffmangel unter der Geburt hat kein ADS zur Folge, auch nicht Fehlerziehung und Krankheiten des Gehirns. Die Symptome sind oft ähnlich, aber für den Fachmann unterscheidbar. Bei allen primären Hirnschädigungen ist die statomotorische Entwicklung verzögert und es sind oft kleine körperliche Anomalien vorhanden, (Minoranomalien).
Zu wenig Struktur in der Erziehung, zu wenig Bewegung, zu viel Medienkonsum, wenig Förderung können die ADS-Symptome wesentlich verstärken oder gar erst zur Störung machen, aber die Anlage dazu ist immer angeboren.
Frauen mit ADS rauchen deshalb oft, weil sie damit ihren Dopaminspiegel erhöhen können, sich ruhiger fühlen, sich besser konzentrieren und entspannen können. Aus den gleichen Gründen greifen sie öfter zum Alkohol, um infolge des Serotonin- und Noradrenalinmangels ihre ängstlich unsichere Grundstimmung, ihre Selbstzweifel zu beseitigen. Sie trinken sich wörtlich genommen „Mut an“, so wird es mir immer wieder berichtet. Werden Frauen mit ADS, die in ihrer Hilflosigkeit zu dieser Selbstmedikation greifen mussten, dann schwanger, können sie durch diese legalen Drogen das sich entwickelnde Kind noch zusätzlich gefährden. Die toxische Schädigung und die genetische können sich summieren.
Mit dem Punkt D.4. weicht meine Interpretation der Ursachen des ADHS von der Meinung vieler Kinderärzte und Kinder- und Jugendpsychiater etwas ab. Von meiner Ausbildung her und meiner wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit als Kinderarzt, Neurologe und Kinderneuropsychiater bin ich von der Richtigkeit meiner Ansicht überzeugt und vertrete sie auch. Eine klare Abgrenzung des ADS von anderen Störungen ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung und eine gute Diskussionsgrundlage dieser Thematik.
An dieser Stelle möchte ich zur grundlegenden Information auf die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie des ADHS der Kinder- und Jugendärzte und der Kinder- und Jugendpsychiater verweisen, die erstmalig 1999 erstellt und zuletzt 2004 überarbeitet wurden, hinweisen. Deren Kenntnisse setze ich voraus.
Es folgen in den nächsten Wochen an dieser Stelle Thesen zu Verhaltens- und Konzentrationsstörungen, Teilleistungsstörungen, wie Lese-Rechtschreib- und Rechenschwäche. Diese Bereiche gehörten bisher in das Ressort der Pädagogen, somit ist es für manche bis heute schwer verständlich, dass hierfür auch eine neurobiologische Störung verantwortlich sein kann und sie dadurch zu einem ärztlichen Problem werden.
Des Weiteren soll erläutert werden, warum ein ausgeprägtes und unbehandeltes ADS zu einem so schweren kindlichen Trauma werden kann, dass es als Ursache von vielen psychischen Störungen und Erkrankungen, wie Ängsten, Zwängen, Depressionen, Suchtverhalten, Essstörungen und sogar für die Ausbildung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung bedeutungsvoll ist. Denn das ADS/ADHS verschwindet nicht von allein und nicht mit dem Erwachsenwerden. Es ist eine Persönlichkeitsvariante, die für den Betroffenen sehr vorteilhaft sein kann. Ein ADS/ADHS zu haben bedeutet aber auch, über besondere Fähigkeiten zu verfügen, die man nur zu nutzen verstehen muss.
Das also ist ADS/ADHS und noch viel mehr, was man wissen sollte, bevor man sich Betroffenen gegenüber als „Fachmann“ oder „Fachfrau“ äußert oder sich mit seinem Schicksal, ADS/ADHS zu haben, abfindet und resigniert.
Jede Diskussion über ADS/ADHS sollte nicht auf der Ebene der Vermutung, sondern auf der Ebene der wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse stattfinden. Dann wäre auch kein Platz mehr für Unterstellungen, wie: „Modediagnose“, „Ausrede der Eltern“, „schlechte Erziehung“, „Kinder unter Drogen stellen“, „Kinder ruhig stellen“, „jeder hat heute ADS“ usw.
Dem entgegenhalten kann man nur mit einer guten Diagnostik und einem vielschichtigem Therapiekonzept. Dies in der Praxis umzusetzen bedarf noch viel Anstrengung, die vor allem mit Informations- und Erfahrungsaustausch beginnen muss. Denn um ADS/ADHS in seiner Vielfalt und in seiner psychodynamischen Bedeutung richtig zu verstehen, sollte man mit vielen Betroffenen und deren Familien über einen mehrjährigen Zeitraum gearbeitet haben.
Dr. Helga Simchen